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Die atmosphärische Wirkung in Räumen

Titelfoto: Andreas Widmer, Schweizer Künstler

Dieser Artikel erschien in der colore #oxydorange

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Unterschiedliche Motive begründen die Auseinandersetzung mit dem Entwurf von Atmosphären – sei es, um atmosphärische Orte in öffentlichen oder privaten Bereichen zu konstruieren/gestalten oder um Visualisierungen von späteren Realitäten herzustellen.

"Ich erinnere mich an einen besonderen Ort in Graubünden: ich steuere das Auto durch ein weites Tal umgeben von hohen Bergen, fahre in langen Serpentinen einen Hang hinauf und komme fußläufig zu einer kleinen mit Schindeln bekleideten Kapelle, die abgehoben am Hang verortet ist. Ich betrete sie über seitliche Steinstufen, die ihr vorgelagert sind, die Weite des Tales verinnerlicht, sehe ich mich konfrontiert mit einem hölzernen im Grundriss tropfenförmigen Raum, der das Licht von hoch oben aus einem Lichtband erhält. Das natürliche Umfeld ist ausgegrenzt, ich bin ganz auf die Wahrnehmung der nahen Umgebung geworfen, entdecke im Inneren vor der vom Oberlicht inszenierten silbernen Wand die Struktur der peripheren Stützen, die das Dach baldachinartig tragen. Die konisch zulaufenden Sitzflächen und Lehnen der Lindenholzbänke verstärken in ihrer Anordnung und Form die blattförmige Grundrissform. Auf ihnen hinterlässt jede bewusste Eindringung eines Fingernagels eine Spur. Mein Inneres verbindet sich mit dem räumlichen Umfeld." Kapelle in St. Benedikt, Architekt Peter Zumthor

Atmosphäre ist allgegenwärtig, augenfällig und doch ein diffuses Phänomen. Wir sagen: "Dieser Raum ist atmosphärisch" ... Warum beschreiben wir ihn so? Und was bedeutet eigentlich Atmosphäre? Was meinen wir denn genau damit? Vielleicht "das berührt mich"? Oder "der Raum ist stimmungsvoll"? "Ich bin fasziniert"? Wie kann ich Atmosphäre, die von vielen wahrgenommen wird, erklären, womit sie beschreiben? Worüber reden wir als Planer? Was sind Mittel und Praktiken zur Erzeugung von Atmosphäre? Wie beeinflusst Atmosphäre den Handlungsraum? Was ist das geheime Sensorium der Poesie in atmosphärischen Räumen?

Die Philosophen haben Begrifflichkeiten dafür gefunden, sie sind gut übertragbar in planerisches Denken:

W. Meisenheimer, Architekt u. Architekturtheoretiker, sagt in seinem Buch Das Denken des Leibes und der architektonische Raum: "Alle Raumerlebnisse sind atmosphärisch, d. h. sie sind eingebettet in komplexe äußere und innere Umstände der Wahrnehmung." Atmosphäre hat also mit Wahrnehmung zu tun, aber sind wirklich alle Raumerlebnisse atmosphärisch?

G. Böhme, Philosoph, erklärt in seinem Buch Atmosphäre: "Wahrnehmen ist im Grunde die Weise, in der man leiblich bei etwas ist, bei jemandem ist oder in Umgebungen sich befindet. Der primäre Gegenstand der Wahrnehmung sind Atmosphären", und weiter: "Atmosphäre wird nur dann zum begreifbaren Begriff, wenn es gelingt, sich über ihren eigentümlichen Zwischenstatus zwischen Subjekt und Objekt Rechenschaft zu geben."

H. Schmitz, Philosoph, erweitert: "Wahrnehmen ist Betroffensein und verschmelzender Mitvollzug. Atmosphären werden zu ergreifenden Gefühlsinstanzen, sind räumliche Träger von Stimmungen." (aus: Der Raum, der Leib und die Gefühle) Wir nehmen unsere Umgebung körperlich- leiblich auf. Die Empfindung bezieht sich eher auf den Leib, die sinnliche Wahrnehmung hingegen auf den Körper. Wahrnehmungen werden erweitert durch Erinnerungen und Erfahrungen, durch unsere Wünsche und Visionen, Träume und Sehnsüchte, die Gefühlsebenen des Leibes. Wenn ich von einem atmosphärischen Raum spreche, werte ich den Begriff positiv – als Ausstrahlung, Stimmung, Charme. Die Dinge im Raum fangen an "zu sprechen", sie beflügeln unsere Sinne, sie erzeugen in mir Lust, Freude, Spaß, Traurigkeit, Melancholie, ich bin auf emotionaler Ebene berührt. Es entsteht eine Kommunikation zwischen Architektur, Innenarchitektur und Mensch, eine stille Zwiesprache – der ergonomisch geformte Mensch und der geometrische Raum interagieren.

Fünf Phänomene dazu will ich näher beleuchten.

1.These: Atmosphäre ist mehr als die Summe ihrer Teile.

Selbst wenn ich die Mittel genau definiere, ist das keine Garantie, die intendierte Atmosphäre erzeugen zu können: Verknüpfungsstrategien, Proportionsentscheidungen (das Verhältnis geöffneter zu geschlossenen Flächen), eine ausgewogene Flächengliederung der Materialien im Raum, das liebevolle Detail, Farbigkeit und Farbanteile, Materialverwandtschaften, eine natürliche Benutzung – das alles kann eigene Dynamiken entwickeln, die vom Planer künstlerisch konzeptionell eingesetzt werden können. Eine Erfahrung und eine Form, Farbe, Struktur oder ein Material finden so glücklich zusammen, dass der Nutzer sie künftig nur als untrennbare Einheit denken kann.

Die Kausalitäten lösen sich auf und die künstlerischen Konzepte werden lesbar. Eine Art "Einverleibung" geschieht beim Nutzer, synästhetisch. Bewegungssuggestionen ereignen sich, Einstimmungen in bestimmte Handlungen. Es entsteht eine Gefühlsqualität, in der Lichtbeschaffenheit, Farbwirkung, Materialerscheinung, Geräuschentwicklung, Aufenthaltsform mit dem Empfinden des Menschen verschmelzen: Atmosphären, die Gefühle sind und die Handlungen ermöglichen.

Aber auch wenn ich Atmosphäre in ihre Bestandteile zerlege, so bleiben doch Lücken, die ich nicht definieren kann, weil meine Wahrnehmungen als Planer und als Nutzer individuell sind. Atmosphären transzendieren, sie überschreiten die Grenzen zwischen Objekt und Subjekt. Bevor etwas in seiner Wertigkeit mit einer sprachlichen Bedeutung verknüpft wird, hat es bereits Aufmerksamkeit gefunden. Atmosphäre wird unabdingbar sofort im ersten Betreten eines Raumes – Quelle einer Ergriffenheit/Bewegtheit, noch ehe sie reflektiert werden kann.

Um sie in einer Systematik des Denkbaren zu verorten, benötigt der Mensch Entwicklungszeit und Deutung der empfundenen Symbolik. Sie muss erst einen Platz im Denken finden. Spüren wird vorbewusstes Handeln. Eine intuitiv ganzheitlich wahrgenommene Welt geht der kognitiven Welt voraus! Sobald ich einen Raum betrete, werde ich zum "Inhalt" des Raumes, zum Bestandteil des Raumgefüges. Den Status des Beobachters verlasse ich, es ist eine Veränderung des Seinszustandes. Körper, Geist und Seele werden zum Inhalt des Raumes. Im erlebten Raum verknüpfen sich Wahrnehmen, Empfinden und Akzeptanz.

2.These: Wir kreieren als Planer mit Raumkonzepten eine "Kultur der Gefühle"!

Die Mittel und das Vokabular kann ich benennen: Formen, Farben, Strukturen, Materialien, Oberflächen, das Licht – ebenso das Vokabular der Verknüpfung, die Konstruktion und die gestalthaften Prinzipien, die konzeptionellen Strategien. Damit entstehen zahlreiche Phänomene, die Resonanzen im Nutzer hervorrufen können. Er/Sie erlebt ein dreidimensionales Augentheater, ein Gedächtnisspiel, das die rein funktionalen Anforderungen der Aufgabenstellung übertrifft. Vorausschauend schaffe ich Synergien und Dissonanzen. Bis zu den Düften können wir betören, abschrecken, locken und warnen. Wenn wir Atmosphäre konstruieren, setzen wir virtuos das Vokabular ein, die Strategien sind verführerisch, nahezu verschwenderisch.

Besondere Herstellungsweisen können ein einfaches Material so potenzieren, dass sogar der Kostenrahmen erhalten bleibt. Es entstehen emotionale Orte, sie werden zum Erlebnis mit Aufenthaltsqualität und Identifikationsmöglichkeit. Der Nutzer entwickelt Aneignungsverhalten. Seine inneren Räume, die als Denk-, Fühl- und Körperräume umschrieben werden können, sind in die Konzeption einbezogen. Raumkonzepte sind eine Einladung an die Leiblichkeit, jeder Raum formt Leiblichkeit. Sobald Raum als Zone der Verknüpfung zwischen dem Selbst und der "Dingwelt" verstanden wird, stellt er Nähe und Beziehung her. Es entsteht das "Beziehungsgewebe Raum", ein Raum der Nähe, die Form ist entwickelt aus der inneren Notwendigkeit. Wir sind die Beziehungsschaffenden unter den ästhetischen Arbeitern.

3. These: Atmosphärischer Raum ist ein archaischer Ort.

Eine Erinnerung an kindliche und archetypische Verhaltensweisen wird ausgelöst. Wir erinnern uns an Urbilder. Der Archetyp ist eine angeborene Tendenz, bewusste Motivbilder zu formen. Diese Vorstellung ist nicht bewusst erworben, sondern sie ist instinktive Neigung. Diese inneren Erscheinungen nennt C. G. Jung Archetypen. Archetypisches Umfeld erzeugt ein Verhalten mit emotionalem Wert und ist eine Sinnkonstruktion. Lebensräume werden durch Sinnzusammenhänge produziert. Dasein, Identität und Lebensraum werden von Sinnkonstruktionen getragen, von ganzheitlichen Lebens-und Gestaltzusammenhängen. Sie machen Bedeutung und Wesen aus.

Solange ein Entwurf ein Überwurf ist, bleibt er eigenständig, verbindet sich nicht mit dem Vorhandenen und die Situation öffnet sich nicht für den Nutzer. Der Raum bleibt dann "Behälterraum". Da, wo das Wesen eines Menschen, sein Innenleben, mit dem gesamten Bereich der Empfindungen und des Denkens real ist, da ist seine Seele. Da, wo das Wesen eines Raumes, sein Innenleben, den Menschen im gesamten Bereich seiner Empfindungen und des Denkens berührt, da ist er beseelt.

4. These: Atmosphärischer Raum hat eine ideelle Gestalt mit Bildwirkung.

Der Mensch haucht dem Raum "Seele" ein. So entsteht in seiner Vorstellung eine ideelle Gestalt. Es gibt eine wahrnehmende Präsenz des Subjekts und dessen Teilnahme an der Gegenwart der Dinge. Jede Raumerfahrung ist zunächst Umschließung des Subjekts und kann dann leibliche Partizipation werden.

Der Architekt Günther Pfeiffer nennt ein Bündel von definierenden Relationen, in dem Räume in einem Beziehungsnetz verschiedenartiger Natur stehen (er bezieht sich dabei auf Foucault): "... der Raum der ersten Wahrnehmung, der Raum unserer Träume, der Raum des Inneren ... das Volumen eines Raumes ist kein Maß, sondern ein inneres Beziehungsgewebe, das in Wirklichkeit nicht die Leere ist, die von einer bestimmten Materie ausgefüllt wird, sondern eine ideelle Gestalt, von der man nur nicht weiß , dass sie eine ideelle Wahrnehmung ist. Das Denken durchquert den Raum, es ist eine Kraft jenseits der Sinnesgrenzen, die den wahren Raum erkennt (und definiert). Die Qualitäten eines Raumes werden bestimmt von der Korrelation mit dem Menschen, ähnlich wie das Bild im Spiegel. Die Räume selbst werden beziehungsfähig in der Dualität von Subjekt und Objekt."

Die ideelle Gestalt ist lesbar, prägnante Gestaltwahrnehmung existent. Wie eine Metapher steht sie für bestimmte Handlungsvorgänge.

These 5: Atmosphärischer Raum ist ein Beziehungsgewebe!

Aufgrund seiner Beschaffenheit kann ein Raum Beziehung verhindern oder zulassen. Dr. Eva Simms (Pittsburgh) sagt über die Tiefenstrukturen der menschlichen Raumerfahrung: "Im allgemeinen Verständnis wird Raum oft als quantitativer, logisch u. mathematisch bestimmter Ort aufgefasst, in dem die Dinge nach geometrischen Koordinaten platziert sind. Im Gegensatz dazu hat das Erlebnis des Raumes eine qualitative Struktur: Räumlichkeit ist ein Apriori der menschlichen Existenz, denn sie räumt den Dingen und unserer Leiblichkeit einen Platz ein und verbindet sie miteinander. Örtlichkeit, Richtung, Tiefe, Bewegung, Entfernung, Nähe sind alle vorobjektive und vorthematische Qualitäten, die die unreflektierte Welterfahrung einer Person ausmachen. Sein ist immer Platziert-Sein."

Wenn Raumqualitäten den Raum bevölkern, erfährt der Mensch sich in der authentischen Wahrnehmung des Sinnlichen. Das Medium der "Seele" vermittelt sie ihm. Das Zusammenwirken der Komponenten Proportion, Material, Oberfläche ... ist die Grundlage der Entstehung eines Gewebes, alle Elemente, die einen Raum erlebbar machen – in dem Sinn, dass Energie spürbar wird. Die verschiedenen Ebenen von Unbewusstem, sinnlich Spürbarem, Fühlbarem und Intellekt lassen den Kosmos eines inneren Raumgewebes entstehen. Jetzt korrespondieren Handlungsraum, Wahrnehmungsraum und Stimmungsraum.

Raum wird durch menschliches Handeln inklusive der Wahrnehmung begründet, und umgekehrt wirken Räume auf das Handeln und die Gefühle zurück. Wie groß ist der Anteil dessen, was wir durch unsere Planungen beeinflussen können? Gertrud Lehnert schreibt in ihrem Buch Raum und Gefühl: Mensch und Raum stehen in unablässigem Austausch und in dieser Verschränkung konstituieren sie Mentalität, Lebensform und Lebensstil einer Kultur. Wir nehmen zunehmend fragmentarisch Raumerlebnisse wahr, und diese Fragmente verändern unsere Gefühlskulturen ...

Bleibt Atmosphäre also eine künstlerische Artikulation oder wie weit ist sie wissenschaftlich zu fassen? Welche Handlungen ermöglicht Raum, erfordert Raum, verhindert Raum?

Atmosphäre erleben

Ich denke, wir können die angemessene Atmosphäre, das Milieu für einen Raum erfinden:

  • für ein Krankenhaus: Raum zur Heilung
  • für eine Schule: Raum zum Lernen, für die Bildung
  • für ein Standesamt: festlicher Rahmen für das Entscheiden
  • für ein Wohnhaus: Raum für Rückzug und Gemeinschaft
  • für einen Laden: Raum für die Präsentation
  • für eine Kirche: Raum für das Transzendente
  • etc.

Alles Möglichkeiten-Refugien mit Gebrauchswert und Symbolwert. Das ist das Gegenteil der Auffassung eines multifunktionalen Raumes, der allein durch loses Mobiliar uminterpretiert werden kann. Das Erleben des Raumes ist abhängig von der leiblichen Existenz und der Bewegung des Körpers im Raum. Dabei ist die Sinneserfahrung nicht nur ein Registrieren von Reizen, sondern zugleich ein intentionaler Vorgang, in dem die Projektion von Bildern, Gestaltbedürfnissen, Körperschemata und Raumvorstellungen mitschwingt. Die unmittelbarste physische Form des bewussten In-Beziehung-Tretens besteht in der Aufnahme des Blickkontakts.

Der Blickraum ist ein Distanzraum, während der Tastraum ein Nahraum von etwa einer Armlänge ist. Die Beziehung im Nahraum ist eine Tastbeziehung, während die Blickbeziehung eine Beziehung im Distanzraum ist. Wir spüren die Innenflächen des Raumes und seiner Gegenstände auf der Haut, auch wenn wir sie nur sehen. Der Mensch entwirft eine eigene Choreografie in der Bewegung seines Körpers im räumlichen Umfeld. Sie korrespondiert mit den Blickpunkten, den Verdichtungen im Raum, dem Licht, den Öffnungen, der Akustik, dem Geruch. Er dockt da an, wo ihm Angebote gemacht werden. Auf diese Sensibilität muss ein Raum eingehen, wie sonst könnte die wichtige Seite der Emotionalität des Menschen integriert werden?

 

Prof. Eva Filter von der Detmolder Schule für Innenarchitektur rückt das Thema Farbe in dieser Rubrik in den Gestaltungsfokus und hebt die Macht der Farbe auf eine höhere Ebene.

 
Beschreibung von Farbkonzepten

Beschreibung von Farbkonzepten

In der Beschreibung von Räumen werden ihre Farbkonzeptionen deutlich und zur Inspiration für eigene Planungskonzepte.

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